
Die Ausgangssituation
Viele Unternehmen bewerten und verkaufen CO2-Zertifikate. Meistens werden diese „Kohlenstoffgutschriften“ (credits) durch die Verhinderung von Waldrodungen begründet. Besitzer bedrohter Wälder begründen credits, indem sie den Wald schützen. Die Logik ist also, dass (zusätzlicher) Kohlenstoff von Bäumen absorbiert wird, die sonst abgeholzt worden wären. Zertifizierer wie Verra oder Pachama bewerten und vermarkten diese Projekte. Dies kann dann zum Problem werden, wenn z. B. Zertifizierer Zertifikate verkaufen, die aus Wäldern ohne jegliche Bedrohung generiert wurden.
CO2-Kompensation: So funktioniert es im Detail
Eine Emissionsgutschrift wird von einem Projektentwickler für Aktivitäten erstellt, die theoretisch zu einem Nutzen für das Klima führen sollten. Dieser Projektentwickler kann ein privates Unternehmen oder eine Naturschutzgruppe sein. Jede Gutschrift soll eine Tonne Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernen (oder eine Tonne weniger emittieren).
Viele Projekte beinhalten den Schutz eines Waldstücks, von dem der Entwickler sagt, dass es „von Abholzung bedroht“ ist. Indem verhindert wird, dass Bäume gefällt werden, sorgt der Entwickler dafür, dass mehr Kohlenstoff absorbiert wird. Wenn ein Projekt als lohnend erachtet wird, überprüfen vom Entwickler beauftragte Prüfer das Projekt nach einer Methodik, die häufig ein hypothetisches „Basisszenario“ beinhaltet, an dem das tatsächliche Ergebnis des Projekts gemessen wird. Wenn die Prüfer dem Projekt grünes Licht geben, wird es von einem Zertifizierer genehmigt, der dem Projekt CO2-Zertifikate ausstellt und dem Projekt ermöglicht, sich in seiner Datenbank zu registrieren. Einmal in der Datenbank aufgeführt, können Credits von Unternehmen wie BA, Lufthansa oder Shell gekauft werden, die CO2-Emissionen ausgleichen und also behaupten möchten, dass Menschen „CO2-neutral“ fliegen oder fahren können.
Was erstmal … nicht schlecht sein müsste. Ohne größere Verhaltensänderungen und zu geringen Kosten für den Verbraucher ist das Problem des Klimawandels gelöst. Nachdem wir ein paar Euro oder Dollar gezahlt haben, können wir uns „wieder hinlegen“. Was natürlich zu schön klingt, um wahr zu sein.
Die Kontroverse um Offsets und Phantom-Zertifikate
Lange war umstritten, ob Kompensation im Kampf gegen den Klimawandel überhaupt hilfreich, relevant – oder sogar kontraproduktiv ist. Sie wurde oft mit dem Ablasshandel der Kirche verglichen. Und während einige Experten argumentieren, dass CO2-Offsets helfen können, die Emissionsziele zu erreichen, sagen andere, dass sie netto schädlich und gefährlich sind. Letztere argumentieren, dass Offsets aus Klimasicht schlimmer seien als Nichtstun, z. B. wegen des sog. „Rebound“-Effekts.
Beide Meinungen haben Argumente für sich. Wir glauben, dass Kompensation gefährlich sein kann und ihre positiven Auswirkungen überschätzt werden – aber wir befinden uns auch in einer echten Klimanotlage. Wir können also grundsätzlich mit Offsets als „notwendigem Übel“ arbeiten – denn ohne sie haben wir noch weniger Chancen, die Erderwärmung zwischen 1,5 und 2,0 Grad zu stoppen. Denn theoretisch könnten „gute Offsets“ in unserem Kampf gegen den Klimawandel hilfreich sein – aber nur für Unternehmen, die ihre CO2-Emissionen bereits vor der Kompensation erheblich reduzieren. Offsets sollten die „Extra-Meile“ über Reduktionen hinaus sein, sollten aber nicht als Ersatz für strenge Emissionsminderungs-Anforderungen verwendet werden.
Darüber hinaus ist die Qualität von Emissionszertifikaten und -Offsets auf dem „freiwilligen Markt“ schon immer etwas „uneinheitlich“ – vorsichtig ausgedrückt. In den letzten Jahrzehnten haben wir immer wieder gesehen, wie Projekte verkauft wurden, die es nie (oder jedenfalls nicht in dieser Höhe) gegeben hat, Wälder, die tatsächlich abgeholzt wurden, Bäume, die abgestorben waren oder doppelt oder mehrfach gezählt wurden. Wir sind der festen Überzeugung, dass eine stärkere Standardisierung hochwertiger Kredite erforderlich ist.
Die Erkenntnisse aus den neuesten Studien zu CO2-Zertifizierern
Eine kürzlich durchgeführte strukturierte Analyse zur Qualität von Emissionszertifikaten scheint diese allgemeine Ansicht zu stützen. Die u.a. vom Guardian und der Zeit durchgeführte Studie legt nahe, dass von fast 100 Millionen analysierten CO2-Gutschriften nur ein Bruchteil zu echten Emissionsminderungen führte – die meisten sind offensichtlich Phantom-Zertifikate. Dies ist ernst – und wirft Fragen für die Organisationen auf, auf die sich viele der weltweit größten Unternehmen und die Verbraucher, die ihre Produkte kaufen, verlassen, um den Standard für einen effektiven CO2-Ausgleich festzulegen – insbesondere für den größten von ihnen, Verra.
In Bezug auf Verra ergab die Untersuchung nämlich, dass nur eine Handvoll der Regenwaldprojekte von Verra Beweise für eine tatsächliche Verringerung der Entwaldung zeigten. Die Autoren der Studien geben an, dass 94 % der Gutschriften keinen Nutzen für das Klima hatten. Laut der University of Cambridge wurde die Bedrohung der Wälder bei Verra-Projekten im Durchschnitt um etwa 400 % überbewertet.
Methodik
Zur Bewertung der Credits analysierte ein Team von Journalisten die Ergebnisse von drei wissenschaftlichen Studien, die anhand von Satellitenbildern die Ergebnisse einer Reihe von Waldausgleichsprojekten überprüften. Zwei Gruppen von Wissenschaftlern untersuchten insgesamt etwa zwei Drittel der 87 von Verra genehmigten aktiven Projekte. Einige wurden von den Forschern ausgelassen, da sie der Meinung waren, dass nicht genügend Informationen verfügbar waren, um sie fair zu bewerten. Beide Studien ergaben, dass nur acht von 29 von Verra genehmigten Projekten, bei denen eine weitere Analyse möglich war, Hinweise auf eine bedeutende Verringerung der Entwaldung zeigten. Eine vertiefte Analyse dieser Projekte und ein Vergleich mit den Schätzungen der Ausgleichsprojekte mit den Ergebnissen der Wissenschaftler ergab:
- Etwa 94 % der Credits der produzierten Projekte hätten nicht genehmigt werden dürfen
- Gutschriften aus 21 Projekten hatten keinen Klimanutzen
- Sieben hatten zwischen 98 % und 52 % weniger als behauptet
- Nur einer hatte 80 % mehr Einfluss, so die Untersuchung
Die Journalisten analysierten diese Ergebnisse erneut genauer und stellten fest, dass in 32 Projekten, bei denen es möglich war, Verras Behauptungen mit den Studienergebnissen zu vergleichen, die Basisszenarien des Waldverlusts um etwa 400 % übertrieben erschienen. 3 Projekte hatten tatsächlich hervorragende Ergebnisse erzielt und einen signifikanten Einfluss auf die Zahlen. Ohne diese Projekte wäre die durchschnittliche Inflation mit 950 % jedoch noch höher gewesen.
Sind wirklich alles Phantom-Zertifikate?
Um fair zu sein, stimmt Verra der Qualifikation als Phantom-Zertifikate nicht zu (Link). Verra argumentiert, dass die Schlussfolgerungen der Studien falsch seien, und stellt ihre Methodik in Frage. Und sie weisen darauf hin, dass ihre Arbeit es seitdem ermöglicht hat, dass Milliarden von Dollar in die lebenswichtige Arbeit des Erhalts der Wälder geflossen sind.
Weitere Analysen sind erforderlich, um die Behauptungen der Studien zu unterstützen oder zu widerlegen. Natürlich verwendeten Verra und die Studien unterschiedliche Methoden, und kein Modellierungsansatz ist jemals perfekt. Die Daten, die die Studien von SourceMaterial, The Guardian und Die Zeit zeigen, scheinen jedoch konsistent zu sein und zeigen einen weitgehenden Mangel an Wirksamkeit der Projekte im Vergleich zu den von Verra genehmigten Vorhersagen. Insofern kann es sich lohnen, die offensichtlichen Übertreibungen von Unternehmen aufzuzeigen, die Verras Offsets kaufen und die agressiv kommunizierten, wie viel sie tun, um ihren CO2-Footprint zu reduzieren.
